Dienstag, 18. November 2014

Ankunft in Berlin

Als ich am Südkreuz in die S-Bahn einsteige, bin ich mit einem Schlag wieder in Berlin. Die ungewohnte Nähe von Menschen, die man in Schweppenhausen nur selten sieht – Frauen mit Kopftüchern, bärtige Studenten, Männer mit Kinderwagen -, katapultiert mich in einem einzigen Augenblick in meine Vergangenheit zurück. Im ICE war mir die alte Heimat bei der Einfahrt in die Stadt gar nicht ins Bewusstsein gedrungen, da ich mich mit meinem Sitznachbarn, einem gelernten DDR-Bürger, der nach Meck-Pomm weiterfahren wollte, über den Untergang des Ostfußballs unterhalten habe.
Hansa Rostock hatte in der ersten Saison der gesamtdeutschen Bundesliga Bayern München geschlagen – im Hin- und im Rückspiel -, erzählte er mir freudestrahlend und öffnete zischend eine Dose Bier. Robotron Sömmerda, Aktivist Brieske-Senftenberg, Motor Jena, Traktor Schwerin, Chemie Leipzig, Fortschritt Meerane, Rotation Babelsberg, Empor Rostock, Turbine Erfurt – alles Vergangenheit. Die Bescheißereien, damit der Stasi-Club BFC DDR-Meister wurde: Hansa Rostock hatte einmal nach neunzig Minuten 4:2 geführt – der Schiedsrichter hatte so lange nachspielen lassen, bis es 4:4 stand.
In der S-Bahn denke ich daran zurück, wie es in den achtziger Jahren war, als ich Berlin besucht habe. Damals wurden im Zug noch die Ausweise von DDR-Grenzern kontrolliert, man war auf dem Weg in ein anderes Land. Am Bahnhof Zoo stieg man aus und war zunächst enttäuscht. Im Vergleich zum Frankfurter Hauptbahnhof war der West-Berliner Bahnhof winzig und wirkte wie eine Fabrikhalle. Da er der Reichsbahn und damit der DDR gehörte, war er völlig heruntergekommen und eine düstere Enklave der Obdachlosen, Drogenhändler und Prostituierten. Damals waren Bahnhöfe noch keine Einkaufszentren. Aber es gab im Erdgeschoss eine Buchhandlung „Heinrich Heine“, ein herrlich unübersichtliches Labyrinth neuer und alter Bücher, aus hohen Regalen und wackeligen Stapeln. Das war der erste Eindruck, den man vor dem Mauerfall von West-Berlin hatte: Drogen, Elend, Literatur. Eine Welt zwischen den Welten, zwischen dem blitzblanken Wirtschaftswunderland im Westen und der sozialistischen Diktatur im Osten.
Das alte West-Berlin, länger vom Feind belagert als Troja, ist untergegangen. Wer interessiert sich noch für Sehenswürdigkeiten wie den Funkturm oder die Gedächtniskirche? Das ICC war einmal mit Baukosten von einer Milliarde DM das teuerste Bauprojekt der BRD – und man konnte ja froh sein, dass man für dieses Kongress-Zentrum eine so charmante Abkürzung gefunden hatte. Heute spielt sich alles im ehemaligen Osten und in Neubauten ab, die nach dem Mauerfall entstanden sind. Auch das alternative Leben, die Revoluzzer und Anarchisten, die Traumtänzer und Lebenskünstler, sind längst verschwunden. Berlin ist normal geworden, es ist kein besonderer Ort mehr. Niemand gräbt noch Fluchttunnel in dieser Stadt, aber manchmal möchte man einen Fluchttunnel in die Vergangenheit graben.
Kaiser Chiefs - Coming Home. http://www.youtube.com/watch?v=VOxhVcCIsP4

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen